05.05.2024

5. Mai – Europäischer Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

Heute, am 5. Mai 2024, wird wie jedes Jahr seit 1993 der europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung begangen. Ziel ist es, auf bestehende Diskriminierungen gegen Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen und mehr Inklusion einzufordern.

Diskriminierung und Exklusion von Menschen mit Behinderung

Menschen mit Behinderung sind in Deutschland immer noch Diskriminierung, Ausschluss und Gewalt ausgesetzt. Ein Beispiel dafür ist das Bildungssystem, das den meisten Kindern mit Behinderung einen diskriminierungsfreien Zugang zu Regelschulen verwehrt. 2019 hatten 16 Prozent der Menschen mit Behinderungen in Deutschland im Alter von 25 bis 44 Jahren keinen allgemeinen Schulabschluss. Obwohl erwiesen ist, dass Kinder mit Behinderung an regulären Schulen mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Schulabschluss erwerben, besuchen über die Hälfte von ihnen weiterhin eine Förderschule außerhalb des Regelsystems. Dieser Ausschluss setzt sich auf dem Arbeitsmarkt fort: Insgesamt gehen deutlich weniger Menschen mit Behinderung einer Erwerbsarbeit nach als der Bevölkerungsdurchschnitt. Zudem arbeiten gut 330.000 Menschen mit Behinderungen in speziellen Werkstätten abseits des ersten Arbeitsmarkts. Dort sind die Beschäftigten vom gesetzlichen Mindestlohn ausgeschlossen und erhalten stattdessen ein Arbeitsentgelt, dass laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales im ersten Quartal 2022 durchschnittlich bei 220 € monatlich lag. So bleiben – oftmals trotz Arbeitstätigkeit im Vollzeit-Umfang – Abhängigkeiten von staatlichen Sozialhilfe-Leistungen bestehen.

Frauen* mit Behinderung erleben intersektionale Diskriminierung

Auch in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt es einen Gender Pay Gap. Dieser lag laut BMAS-Studie bei sieben Prozent. Zudem erleben weibliche* Personen mit Behinderung deutlich öfter Gewalt als Frauen* ohne Behinderung: Laut einer Studie erlebt jede dritte bis vierte Frau* mit Behinderung sexualisierte Gewalt, zwei- bis dreimal häufiger als der Durchschnitt der weiblichen* Bevölkerung. Insbesondere in Einrichtungen der Behindertenhilfe gehört Gewalt zum Alltag von behinderten Frauen*.

„Jegliche Form von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen ist grund- und menschenrechtlich verboten und nicht zu tolerieren. In Wohneinrichtungen und Werkstätten erleben Menschen mit Behinderungen jedoch häufig Gewalt, darunter körperliche oder sexualisierte Gewalt, psychischen Druck und teilweise auch unrechtmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen. Wir kennen zahlreiche Fälle, wissen aber auch, dass das Dunkelfeld sehr hoch ist. Deswegen müssen Politik und Akteur*innen der Behindertenhilfe hier dringend handeln.“

Britta Schlegel, Leiterin der Monitoringstelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte

81–99 Prozent der befragten Frauen* erleben zudem Diskriminierung in Form von belästigenden, bevormundenden, ignorierenden oder Grenzen überschreitenden Verhaltensweisen (z. B. ungefragt geduzt, angefasst oder angestarrt werden). Auch diese Erfahrungen machen Frauen*, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, besonders häufig. Jeweils ein Fünftel der Befragten gab zudem an, dort über kein eigenes Zimmer und/oder nicht über abschließbare Toiletten- und Waschräume zu verfügen.

Auch wenn mit 37 Prozent deutlich weniger Frauen* in Einrichtungen der Behindertenhilfe sexuell aktiv sind als in der Durchschnittsbevölkerung, sind sie doppelt so oft sterilisiert. Die politische Interessenvertretung behinderter Frauen, Weibernetz e.V., stellt dazu fest:

„Nahezu die Hälfte aller sterilisierten Frauen in Einrichtungen gaben in einer Studienauswertung an, dass der Arzt/die Ärztin oder die Betreuungsperson gesagt habe, sie sollten sich sterilisieren lassen. Eine ‚informierte und freiwillige Zustimmung‘ darf infolge dieser Ausführungen in vielen Fällen bezweifelt werden.“

Zudem fehle es an barrierefreien gynäkologischen Praxen. Deutschlandweit gebe es nur drei oder vier entsprechend ausgerüstete Spezialambulanzen, sodass Frauen* mit Behinderung oft sehr lange auf Termine warten müssen, oder gar keine Vorsorgeuntersuchungen machen lassen.

Menschenrechtsschutz von Menschen mit Behinderung

Vor 15 Jahren, am 26. März 2009, trat die UN-Behindertenrechtskonvention CRPD in Deutschland in Kraft. Ähnlich wie die Frauenrechtskonvention Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet, verbietet die Behindertenrechtskonvention die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und schreibt das Recht auf Teilhabe und Inklusion in allen Lebensbereichen fest. Das bedeutet beispielsweise den barrierefreien Zugang zu Gebäuden, Straßen oder Transportmitteln. Der Protesttag am 5. Mai soll unter dem Motto „Selbstbestimmt leben – ohne Barrieren“ darauf aufmerksam machen, dass diese Vorgaben noch bei Weitem nicht erreicht sind. Im letzten Jahr hat der zuständige UN-Ausschuss Deutschland scharf für den fehlenden Fortschritt in zentralen Bereichen kritisiert. Insbesondere weiterhin bestehende Sonderstrukturen (etwa die bereits erwähnten Förderschulen, Werkstätten oder Wohnheime für Menschen mit Behinderung), verstoßen laut Ausschuss gegen die Konvention, denn sie schränken die Wahlfreiheit Betroffener ein.

Die Behindertenrechtskonvention erkennt auch an, dass Frauen* und Mädchen* mit Behinderung besonderen Diskriminierungen ausgesetzt sind und verpflichtet die Vertragsstaaten daher, Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten sicherzustellen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisiert in seinem Parallelbericht:

„Die bisherigen staatlichen Maßnahmen reichen nicht aus, um Frauen und Mädchen mit Behinderungen konsequent und systematisch zu empowern. Insbesondere mangelt es an einer dauerhaften verlässlichen Förderung der politischen Interessenvertretungen auf Bundes- und Länderebene sowie an disaggregierten Daten nach Art der Beeinträchtigung und anderen Diskriminierungsmerkmalen, um die besonderen Lebenslagen und Diskriminierungsrisiken dieser Gruppe sichtbar zu machen.“

Interessenvertretungen von Frauen* mit Behinderung sollten daher besser gefördert und Daten zu Stigmatisierung und Diskriminierungserfahrungen erhoben werden. Außerdem empfiehlt das Institut – genauso wie der UN-CRPD-Ausschuss – die Belange von Frauen* mit Behinderung sowohl in der Behinderten- als auch in der Gleichstellungspolitik systematisch einzubeziehen. Der Ausschuss zeigt sich zudem besorgt über Gewalt gegen Menschen und insbesondere Frauen* mit Behinderung und fordert die Bundesregierung auf, die Hilfe- und Unterstützungsstrukturen in Einklang mit der Istanbul-Konvention barrierefrei zu gestalten und den Schutz vor Gewalt insbesondere in Einrichtungen der Behindertenhilfe sicherzustellen.

Auch die CEDAW-Allianz Deutschland fordert von der Bundesregierung, die Frauenrechtskonvention in Deutschland für alle Frauen* und Mädchen* unter Berücksichtigung intersektionaler Ansätze konsequent umzusetzen und zu diesem Zweck:

  • Intersektionalität bei der Bearbeitung gleichstellungspolitischer Aktivitäten auf allen Ebenen in Bund, Ländern und Kommunen verpflichtend und ressortübergreifend zu verankern
  • Studien, auch qualitativer Art, zur Situation der von intersektionalen Formen der Diskriminierung betroffenen Frauen* zu fördern und die Öffentlichkeit für diese Diskriminierungsformen zu sensibilisieren
  • die personellen und finanziellen Ressourcen sowie die Befugnisse der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu erhöhen
  • die Bundesländer, die noch keine eigenen Antidiskriminierungsgesetze haben, zu veranlassen, diese zu erlassen
  • eine bundesweit wirksame, intersektional ausgerichtete und ressortübergreifende Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen* und Mädchen*
  • die barrierefreie Ausstattung aller Frauenhäuser intensiv zu fördern