Geschlechtsspezifische Dimensionen von Flucht und Migration
Die Frauenrechtskonvention umsetzen
Geflüchtete Frauen* und Mädchen* sind diversen geschlechtsspezifischen Gefahren und Diskriminierungen ausgesetzt. Auf der Flucht sind sie häufiger von sexualisierter Gewalt und Menschenhandel betroffen. Bei Ankunft in Deutschland werden sie von einem auf männliche Bedürfnisse zugeschnittenen Asylsystem benachteiligt und bei der Bereitstellung von Unterstützungsangeboten für Frauen* übersehen. Dabei gelten Menschenrechte von Frauen* unabhängig vom Aufenthaltsstatus.
Geflüchtete Frauen* und Mädchen* haben Rechte
Entsprechend dem aktuellen Global Trend Report von UNHCR waren Ende 2022 108,4 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Damit sind Flüchtlinge, Asylsuchende, Binnenvertriebene und Menschen, die internationalen Schutz benötigen, gemeint. Die Anzahl der geflüchteten Personen ist seit Ende 2021 um 19 Millionen und damit 21 Prozent gestiegen. Diese rasante Entwicklung ist hauptsächlich auf die russische Invasion in der Ukraine zurückzuführen. Weltweit sind etwa die Hälfte der geflüchteten Menschen Frauen* und Mädchen*. Entsprechend der Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurden in Deutschland zwischen Januar und August 2023 28,5 % der Asylanträge von weiblichen* Personen gestellt.
Die 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention sowie das 1967 verabschiedete Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge bilden die aktuell international gültige Rechtsgrundlage zum Schutz von Geflüchteten (UNHCR Deutschland ). Der Verfolgungsbegriff und die Flüchtlingsdefinition wurden lange aus männlicher Sicht interpretiert und frauen*spezifische Perspektiven ignoriert. Inzwischen wird anerkannt, dass das Geschlecht ein Verfolgungsgrund sein und die daraus resultierenden Konsequenzen beeinflussen kann (vgl. etwa UNHCR Schweiz).
Die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ist im Völkerrecht das wichtigste Menschenrechtsinstrument für Frauen* und Mädchen*. Menschenrechte gelten ungeachtet von politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und staatsbürgerlichen Dimensionen. Dementsprechend schützt CEDAW alle Frauen*, die sich in einem Land aufhalten, welches Mitglied des Abkommens ist. Da Deutschland CEDAW 1985 ratifiziert hat, fordert die CEDAW-Allianz die Bundesregierung mit konkreten Forderungen dazu auf, das Abkommen für alle Frauen* umzusetzen.
Das Kontinuum geschlechtsspezifischer Gewalt vor, auf und nach der Flucht
Wenn Frauen* fliehen, tun sie das genauso oft wie Männer* vor Krieg, Verfolgung, Umweltkatastrophen oder anderen Entwicklungen, die ihnen ein Bleiben verunmöglichen. Allerdings kommen oftmals geschlechtsspezifische Gründe wie drohende Genitalverstümmelung oder Zwangsverheiratung hinzu (Friedrich-Ebert-Stiftung). Die erlebte oder angedrohte Gewalt wird zur Fluchtursache, aber auch auf der Flucht besteht ein besonders hohes Risiko, sexuelle oder geschlechtsspezifische Gewalt zu erleben, insbesondere für alleinreisende Frauen*. Besonders eklatant ist die Gefahr des Menschenhandels, dem insbesondere Frauen* auf der Flucht ausgesetzt sind (Bundeszentrale für politische Bildung). Auch zeigen diverse Studien, dass sexuelle und geschlechtsbasierte Gewalt gegen Frauen* in Flüchtlingslagern ein globales Phänomen darstellt. Teilweise werden sexuelle Dienstleistungen erzwungen, um im Gegenzug Nahrung oder Unterkunft zu erhalten (Netzwerk Flüchtlingsforschung).
Und auch in Deutschland müssen geflüchtete Menschen oft auf sehr engem Raum mit fremden Personen unter teils schlechten hygienischen Bedingungen zusammenleben. Da in Deutschland die Mehrheit der geflüchteten Menschen männlich* ist, kann das sehr schwer sein für Frauen*, die sexualisierte Gewalt auf der Flucht erlebt haben (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung). Zudem kommt es regelmäßig zu Gewalt durch Mitbewohner* oder Sicherheitspersonal. Der Schutz gewaltbetroffener Frauen* ist nicht garantiert. Die Frauenhaus Koordinierung e.V. bemängelt fehlende Gewaltschutzkonzepte und Beschwerdesysteme in Unterkünften für Geflüchtete. Zusätzlich erschwert die gesetzliche Regelung, wonach Frauen* und Kindern ohne Aufenthaltstitel der Aufenthalt in einem Frauenhaus nicht finanziert wird, sowie fehlende Sprachvermittlung die Situation der geflüchteten Frauen*.
Da geschlechtsspezifische Fluchtursachen von den deutschen Behörden oftmals nicht anerkannt werden, droht vielen Frauen* zudem die Zurückweisung in gewaltvolle Zusammenhänge (Bündnis Istanbul-Konvention, S. 181ff).
Um auch geflüchtete Frauen* hinreichend vor Gewalt schützen zu können, fordert die CEDAW-Allianz Deutschland in ihrem Alternativbericht:
- bundesweite barrierefreie, mehrsprachige, diversitätsorientierte, niedrigschwellige Hilfsangebote, wie z. B. Gesundheitsangebote für Mädchen* und Frauen*, (anonyme) Spurensicherung und Therapieplätze
- Aufenthalts- und asylrechtliche Zugangshürden zu Frauenhäusern unverzüglich zu beseitigen
- dauerhafte dezentrale Unterbringung, für geflüchtete, besonders vulnerable Personengruppen
- bessere Gewaltschutzkonzepte in den Unterkünften für Gruppen mit erhöhtem wiederholtem Gewaltrisiko, bspw. Frauen* oder Betroffene von Menschenhandel
- Gewaltschutzkoordinator*innen und ein effektives Beschwerdemanagement vor Ort
- besonders vulnerable Gruppen frühzeitig zu identifizieren und vorrangig und schnell in geschützten Räumen unterzubringen
- Frauen* als „soziale Gruppe“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention einzustufen, damit sie im Fall von geschlechtsspezifischer Verfolgung und Gewalt (bspw. Menschenhandel, FGM, Zwangsverheiratung) Schutz finden
- Schutz und einen menschenrechtskonformen Umgang mit Geflüchteten als Priorität der deutschen Innenpolitik mit Blick auf Aufnahme, Unterbringung und Versorgung in den sogenannten Ankerzentren
Migrationsbiografien führen zu Mehrfachdiskriminierungen
Wenn geflüchtete Frauen* erwerbstätig sind, arbeiten sie häufiger in informellen Sektoren, sind somit rechtlich und sozial nicht abgesichert, und dadurch korrupten Strukturen sowie sexuellem Missbrauch schutzlos ausgesetzt.
Bei der Ankunft in Deutschland reisen laut einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge geflüchtete Frauen* überwiegend mit einer Familie ein und sind dabei stark in die tägliche Kinderbetreuung und Haushaltstätigkeiten eingebunden. Und auch für geflüchtete Kinder ist die Situation zunehmend belastend: So berichten UNICEF und das Deutsche Institut für Menschenrechte, dass kindergerechte und geschützte Räumen fehlen sowie der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialen Kontakten außerhalb der Unterbringung erschwert ist. Daraus ergeben sich für viele Frauen* geschlechtsspezifische Schwierigkeiten hinsichtlich der sozialen Teilhabevoraussetzungen: Sie sind seltener erwerbstätig, weisen weniger ausgeprägte Kenntnisse der deutschen Sprache auf und besuchen seltener Sport- und/oder Kulturveranstaltungen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).
Auch erleben geflüchtete Menschen immer wieder Diskriminierung auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, sowie im gesellschaftlichen Leben. Das kann insbesondere Frauen* hart treffen. So zeigen Studien beispielsweise, dass kopftuchtragende Frauen* eine besonders von Diskriminierung betroffene Gruppe in Deutschland darstellen.
Es wird deutlich: Soziale und wirtschaftliche Integration sind stark davon abhängig, welches Geschlecht, aber auch welchen Pass ein Mensch besitzt. Deswegen fordert die CEDAW-Allianz Deutschland in ihrem Alternativbericht:
- Frauen* mit Fluchterfahrungen oder Migrationsgeschichte in eine der Qualifikation angemessene Beschäftigung zu vermitteln und ggf. durch Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen vor prekären Arbeitsverhältnissen zu schützen
- die personellen und finanziellen Ressourcen sowie die Befugnisse der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu erhöhen
- die Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse zu verbessern und Frauen* nicht in Berufe mit niedrigeren Qualifikationsanforderungen zu drängen
- intersektionale Diskriminierungen u. a. durch verpflichtende anonymisierte Bewerbungsverfahren abzubauen
In den immer wiederkehrenden Debatten zu Migration und Asyl fehlt oftmals eine menschenrechtsbasierte Perspektive, die die besonderen Bedürfnisse von mehrfachdiskriminierten Gruppen berücksichtigt. Die Bundesregierung bekennt sich zwar zu einer intersektionalen Gleichstellungspolitik, aber weiterhin gilt: „die vielfältigen Formen der Diskriminierung müssen auch institutionell und strukturell sowie auch im Rahmen besonderer Vorkehrungen bekämpft werden“ (CEDAW Alternativbericht 2023, S.7).
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